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ASHRA @ METAMORPHOSE | Japan 2008

Manuel Göttsching & ASHRA
Live at Metamorphose 08 Festival
Shuzenyi, Izu Hanto, Japan

© 2008 HARALD GROSSKOPF, V. 24.09.2008

Ashra live @ Metamorphose Festival

Manuel Göttsching ist eingeladen, mit Ashra als Headliner auf dem zweitgrößten Festival nach FUJI ROCK, dem METAMORPHOSE 08, in Japan aufzutreten. FUJI ROCK gilt als Tummelwiese internationaler Rock Acts. Das METAMORPHOSE Fest bietet breiteres Spektrum. Ein großes Forum für Experimental-, Jazz- und Elektronikbands. Außerdem legen ein paar weltspitzen DJs auf. In diesem Jahr kamen 40000 Besucher. Wir nutzen den Anlass, um unserer einunddreißigjähriges Bühnenjubiläum zu feiern.

Manuel kenne ich seit 1973, als ich auf der Ash Ra Tempel-LP „Starring Rosi“ mein Schlagzeug verewigte. Steve (Baltes) ist „erst“ seit elf Jahren mit von der Partie. Ich komme mir ein wenig wie Charly Watts von den Stones vor.

Steve Baltes @ Metamorphose 08Mittwoch, 20. August 2008, 22:00 Uhr. Ich sitze an meinen elektrischen Drums und editiere sie für die letzten zwei Musiktitel, welche mir Steve als MP3-File, quasi in letzter Minute, zugeschickt hat. Steve hat heftige sechs Wochen Arbeit am Rechner hinter sich. Vor allem nachts. Insgesamt waren neun Titel „from scratch“ herzustellen und in die Live-Software zu integrieren. Nach acht Jahren Bühnenpause waren alle Samples für eine ASHRA Performance im unendlich virtuellen Raum abhanden gekommen. Steve erzählt uns die dazu gehörige Geschichte immer wieder gern. Kurz nach unserem letzten Gig den Sampler eingeschaltet. Schock! Speicher komplett leer. Das war’s! Die Ursachen sind bis heute nicht geklärt. Die Fans wird das wenig interessieren.

Die Temperatur in meinem kleinen Studio erreicht schnell dreißig Grad, wenn ich hinter meinen E-Drums in Ekstase gerate. Ich brauche die richtige Betriebstemperatur zum editieren. Erst durch die körperliche Dynamik bekomme ich das richtige Gefühl für das Editing meiner virtuellen Trommeln. Die Zeit verrinnt unaufhaltsam. In zehn Stunden fliegen wir nach Tokio und ich habe noch nichts gepackt!

Die Trigger-Pads meiner elektrischen Trommeln sind bis auf die Bass Drum als Stereo-Trigger ausgelegt. Jeweils Spielfläche und Trommelrand. Da ich für jeden der neun Titel ein eigenes Sound Setup haben will, bedeutet das, dass ich für 144 Drum Trigger aus einer sehr großen Auswahl einen Sounds auswählen, stimmen, dämpfen, filtern, stereo mäßig verteilen und die Effektanteile einstellen muss. Das braucht seine Zeit. Da ist schnell eine Woche ins Land gegangen.

Harald Grosskopf mit Ashra beim Metamorphose FstivalUm halb ein Uhr nachts bin ich klatschnass geschwitzt und endlich fertig. Das Studio temperaturmäßig in afrikanische Atmosphäre verwandelt. Meine Technik ist bereit von mir eingetütet zu werden. Gott sei Dank brauche ich die Hardware nicht mitnehmen. Ein identisches Gerät wird vor Ort auf der Bühne stehen. Ich nehme zur Sicherheit das Soundmodul meiner Trommeln und einen USB-Stick mit, auf dem sich meine Edits befinden. Das Risiko, dass mein Reisekoffer nicht zeitgleich mit mir ankommt, habe ich all zu oft erleben müssen, daher nehme ich den Mini-Verstärker für meinen Kopfhörer und das Trommel-Soundmodul mit ins Handgepäck.

Damit ich während der Performance durchblicke, welche Sounds auf welchen Drum Pads liegen, habe ich mir für jeden Titel ein Sound Sheet angefertigt. Schnell noch packen. Ich habe mir eine Liste gemacht, damit ich auch nichts vergesse. Um zwei Uhr liege ich endlich im Bett, kann aber beim besten Willen nicht einschlafen. Stehe wieder auf und ziehe mir zum Runterkommen „Olympia Live“ rein. Eine Stunde später bin ich entspannt und kann einschlafen, um zweieinhalb Stunden später von allein wieder aufzuwachen. Fünf Minuten bevor der Wecker klingeln sollte. Meine Zwillinge Sky und Beck wecken, anziehen und ab in den Kindergarten. Dann schnell nach Düsseldorf zum Airport, wo ich Steve (Baltes _www.stevebaltes.com_) treffe. Auch er hat bis zur letzten Minute am Ashra-Material „geschraubt“.

Die Maschine der British Airways bringt uns schnell nach London, wo wir
2 Stunden auf den Anschluss nach Tokio warten. British Airways hat laut Steve weltweit den besten Entertaining Service. Jede Menge aktuelle und alte Spielfilme. Oder im TV Kultur, Sport, Comedy. Alle Sitze sind mit einem TV-Monitor ausgestattet. Man kann pausieren und sich jederzeit unabhängig vom Nachbarn anschauen, wonach einem gerade ist. Steve hat viel Erfahrung. Er fliegt oft Übersee, wo er als DJ mit seinem Partner Jason (Dyloot) als DEEP VOICES in Kalifornien erfolgreich „Trance“ auflegt. Auf den Straßen von San Francisco wird Steve von Fans erkannt.

Wir fliegen nach Osten, der Sonne entgegen. Elfeinhalb Stunden lang. Unter uns gleiten Nordsee, Norwegen, die russische Insel Nowaja Semlja, auf der in den Sechzigern die bis heute größte Explosion aller Zeiten mittels einer Wasserstoffbombe mit dem Namen „Zar“, ausgelöst wurde, dahin. Noch in den Achtzigern testeten die Russen hier unterirdisch Atombomben. Dann über Sibirien bis wir Wladiwostok erkennen.

Schließlich erreichen wir die japanische Hauptinsel Honshu. Dann ertönt ein Raunen im Flugzeug. Der Mount Fuji ist auf der rechten Flugzeugseite aufgetaucht und stößt durch die Wolken. Ich hole schnell meine Kamera. Eine Gruppe junger Japanerinnen macht mir lächelnd Platz, nachdem ich artig hinter ihnen warte, um einen Blick auf den berühmten Berg aus dem kleinen Fenster der Ausstiegstür zu ergattern. Zu spät, Mount Fuji ist schon vorbei. Ich hoffe ihn wenigstens auf der Halbinsel Izu in den Blick zu bekommen. Auf Izu Hanto findet unser Festival statt, ganz in der Nähe des heiligen Berges. Der Tag und die darauffolgende Nacht ziehen rapide an uns vorüber. Alles verkürzt sich um sieben Stunden.

Freitagmorgen 9:00 Uhr japanischer Zeit landen wir ohne Zwischenfälle auf dem Tokioter Narita Airport. Ich habe das Gefühl als wäre Mitternacht. Tatsächlich ist es zu Hause auch erst 2:00 Uhr. Auf dem Weg zur Passkontrolle entdecken wir ein paar Reihen vor uns Josh Wink, einen internationalen Star der DJ Szene, der auf dem Metamorphose Festival auflegen wird. Steve wird ihn später persönlich kennen lernen. Als wir aus der Zollabfertigung kommen, erblicken wir hinter der Absperrung zwei junge Japaner, ein Schild mit der Aufschrift „Ashra“ hochhaltend. John, ein gebürtiger Venezolaner, in Japan aufgewachsen, stellt sich in perfektem Englisch als der für uns in den nächsten drei Tagen zuständige Tourmanager vor.

Ashra (Manuel Göttsching, Steve Baltes, Harald Grosskopf)

Ashra reisen mit drei verschiedenen Airlines an. Manuel (Göttsching www.ashra.com) mit seiner Frau Ilona (Ziok), einer weltweit bekannten Regisseurin von Dokumentarfilmen, treffen eine knappe Stunde nach uns ein, zeitgleich mit Florian und Markus, unserer Technik Crew, die sich mutig Aeroflot anvertraut haben. Florian, der zwei Jahre in Japan gelebt hat und die Sprache spricht, filmt in der kommenden Woche jede unserer Bewegungen. Ich freue mich, nach elf Jahren wieder japanischen Boden zu betreten. Ein klimatisierter Kleinbus setzt uns nach knapp zweistündiger Fahrt vor dem Keio Plaza Tokyo ab, einem fünfundvierzigstöckigen Hotel im Stadtteil Shinjuku. Obwohl ich im Flugzeug kaum schlafen konnte, bin ich hellwach. Dieser wellenförmig unberechenbar verlaufende Müde-Wach-Zustand begleitet mich bis zum Abflug und Tage darüber hinaus.

Manuel, Ilona, Florian und Markus kommen mit nur einem Tag Pause direkt aus den USA, wo Manuel in New York in diversen Clubs und im kultigen Lincoln Center in einem klassischen Zusammenhang auftrat. Die Kompositionen auf seiner E2-E4 Scheibe wird inzwischen nahtlos in die Reihe der wegweisenden US-amerikanischen Minimalisten (Minimal Music) Steve Reich, Philippe Glass und Terry Riley eingeordnet. Manuel und Ilona legen sich aufs Ohr. Der Rest unserer Crew verabredet sich in der Lobby zum gemeinsamen Essengehen.

Japanisches Essen, aus meiner Sicht das Beste, was die Welt zu bieten hat. Man sieht hier kaum übergewichtige Menschen. Selbst Durchschnittsrestaurants, von denen es hunderte hier in der Gegend gibt, bieten hohe Qualität und freundlichen Service. Der Ashra-Schriftzug in Katakana-Schreibweise auf meinem T-Shirt stellt sich als nicht korrekt heraus. Es fehlt die Silbe „Syu“, welche aus „Shi“ ein kurzes „Sch“ macht. Auf meinem Shirt steht „Ashira“ anstelle von „Ashra“. Später höre ich, dass die falsche Silbe die Fans amüsierten.

Harald in einer BarIm Restaurant ziehen wir unsere Schuhe aus und nehmen in einer winzigen Vierer-Kabine Platz. Von den Nebenkabinen trennen uns dünne, hölzerne Gitterstäbchen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie effektiv Japaner ihren begrenzten Platz nutzen. Ich habe eine Küche gesehen, in der auf einer Fläche von etwa 1,60 x 2 m perfekt gekocht wurde. Diese Enge und Nähe stört hier niemanden. Die Gäste lassen sich durch nichts in ihrer Kommunikation ablenken.

Auf unserem Tisch steht ein Computermonitor, auf dem die Speisekarte angezeigt wird. Allerdings nur in Japanisch. Es gibt hier neben den chinesischen Kanji-Schriftzeichen noch zwei weitere Schriftformen. Katakana und Hiragana, eine von den Japanern „vereinfachte Form“ der komplizierten chinesischen Schrift. Mich fasziniert es, von diesen geheimnisvollen Symbolen umgeben zu sein. Der der Sprache mächtige Florian scheint auch nicht alles lesen zu können. Unabsichtlich tippen wir mehrfach auf den Speisekartenmonitor. Das „Bestellte“ steht nach fünf Minuten auf unserem Tisch. Man kann auch persönlich bestellen. Die Kellner nehmen Bestellungen im Allgemeinen kniend entgegen. Daran kann ich mich nur schwer gewöhnen.

Alles, was wir bestellen, schmeckt vorzüglich. Es kommen auch keine Überraschungen wie „Salat von marinierten Augennerven des Haifisches“, „Kaninchenhoden Yakitori“ oder „Eisparfait aus geriebenen Ameisen“. Wenn es das hier tatsächlich geben würde, ich würde allerdings nicht zögern. Mein Vertrauen in den japanischen Geschmacksnerv ist grenzenlos. Die Portionen der Delikatessen sind „übersichtlich“. Wir teilen, was gebracht wird und bestellen ein Gericht nach dem anderen. Beim Japaner auf der Immermannstrasse in Düsseldorf würde man ein Vermögen dafür hinlegen. Hier sind die Preise überraschend moderat.

Es ist subtropisch warm in Tokio. Wir begeben uns nach unseren Nahrungsaufnahmeexzessen zurück ins Hotel. Florian hat ein leichtes Zittern während unserer Mahlzeit wahrgenommen. Minierdbeben, sagt er ungerührt. Gehören in Tokio zur täglichen Erfahrung. Außer ihm hat keiner davon etwas mitbekommen.

Ich bin nach zwei, mehr oder weniger schlaflosen Nächten immer noch erstaunlich fit, lege mich vor die Glotze und zappe mich durchs Programm. Obwohl ich außer bei CNN und BBC nichts verstehen kann, gewinne ich den Eindruck, japanisches Fernsehen ist nicht besser als unseres. Nur bunter und weniger ernst. Die japanische 4 x 100 m Läuferstaffel der Männer hat eine Silbermedaille gewonnen. Die Sportler heulen vor Glück. Später ins japanische TV-Olympiastudio eingeladen, berichten die vier Sportler von ihren Erlebnissen. Ständig untermalt von leisen, langgezogenen Stöhnlauten der Moderatorin. Scheinbar Ausdruck ihrer Bewunderung und ihres Respekts. Oooohhhhhhh... oooohhhhh... Ich habe dieses leise Stöhnen während der Reise öfter wahrgenommen, wenn ich ins Gespräch vertiefte Japaner beobachtete.

Nach einer Stunde vor der Glotze bin ich wieder hungrig. Manuel und Ilona sind inzwischen wieder auf den Beinen und auch hungrig. Ich schließe mich den beiden an. Wir schlemmen uns weiter durch die exotischen Angebote der einheimischen Küche. Es gibt viel zu erzählen, darüber verrinnt die Zeit. Ich lege mich aufs Ohr und schlafe sieben Stunden ohne zwischendurch aufzuwachen. Erst jetzt, vierundzwanzig Stunden nach unserer Ankunft, bekomme ich langsam das Gefühl angekommen zu sein. Mein Ausblick aus dem fünfundzwanzigsten Stockwerk ist gigantisch. Blitzblanke Wolkenkratzer, dazwischen bis zum Horizont Stadt.

Es regnet. Ich kaufe einen dieser durchsichtigen Folien-Mini-Regenschirme für umgerechnet einen knappen Euro. Durchsichtige Regenschirme scheinen hier der Renner zu sein. Überall in den Eingangsbereichen von Hotels, Supermärkten und Restaurants stehen „Plastiktüten-Über-Nasse-Regenschirme-Zieh-Maschinen“. Mit einer Bewegung steckt der Schirm im Kondom, ist wieder herausgezogen und kann nicht mehr tropfen! Coole Erfindung.

Ashra Bandbus

Nach dem Frühstück stehen zwei Minibusse für uns bereit, die uns zum Event bringen. Shuzenyi liegt ein paar hundert Kilometer südwestlich von Tokio auf Izu Hanto, in der Nähe des Fudschijamas. Heute leider von Wolken bedeckt und nicht zu sehen. Hanto bedeutet „Halbinsel“, sagt mein Lonely Planet Reiseführer. Zunächst wieder auf Stadtautobahnen, fahren wir bald nur noch auf sich durch Berg und Tal schlängelnde schmale Straßen, die von dichtem exotischem Grün gesäumt sind. Der Regen wird stärker. Hoffentlich hat das keine Auswirkungen auf das Festival, denke ich.

Bei einem Raststätten-Zwischenstopp wird Manuel von jungen japanischen Fans entdeckt, umlagert und muss Autogramme geben. Steve muss auch gleich schreiben. Jemand aus unserer Crew hat ein Glasfläschchen gekauft, vermutlich ein alkoholisches Getränk, in der eine Riesenbiene oder ein ähnlich großes Insekt seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Trinkt man die mit?

Die hügelige Izu Hanto ist weitläufig mit dichtem Grün überzogen, dicht besiedelt wie ganz Japan und erinnert an tropischen Dschungel. Die kleinen, dunklen Holzhäuser sind von winzigen, zugewachsenen Grundstücken umgeben. Nach fünf Stunden Fahrt sind wir am Ziel. Ein Hotel, vorwiegend von japanischen Badetouristen bewohnt. Izu Hanto ist das Zentrum japanischer Badekultur (Onsen), lese ich im Lonely Planet.

Ich halte das Rumhängen im Hotel nicht aus und lasse mich zum Festivalgelände fahren. Es gibt drei Bühnen auf dem riesigen Sportparkgelände: „Solar“-, „Lunar“- und „Planet“-Stage. Wir spielen nach Mitternacht auf der „Solar“ - Hauptbühne. Dichte Menschenmassen strömen unaufhörlich auf das Gelände. Immer wieder werde ich von freundlichen jungen Japanern angesprochen.

Es ist früher Abend und es dämmert. Ich steige backstage auf die Bühne, auf der gerade der Aufbau für den ersten Act des Abends stattfindet und werde sofort vom australischen Stage Manager freundlich begrüßt und erfahre, dass mein Roland E-Drum bereit steht. Ich bin beruhigt, hatte ich doch leichte Zweifel, ob meine Bestellungen auch klappen würden. Mein Vertrauen in japanische Verlässlichkeit kennt von diesem Moment an keine Zweifel mehr.

Ich fahre wieder ins Hotel und begebe mich zum Abendessen in einen großen Raum, der mit entspannten, essenden Japanern angefüllt ist. Die Mehrzahl der hier versammelten Menschen ist mit einem „Yukata“, einem kimonoartigen, leichten Hausmantel bekleidet.

Am Buffet wieder bestes Essen. Unsere Ashra-Crew sitzt am hinteren Ende des Saales und lässt es sich gut gehen. Wir werden vom Nachbartisch gefragt, wo wir herkommen und unmittelbar mit deutschen Sprachbrocken angesprochen: „Gutten Tag“, „Dan-ke“ und „Ich libbe Dich“... Mein zustimmendes Grinsen wird mit grölendem Gelächter beantwortet.

Meine Nervosität steigert sich langsam. Kurz vor 23 Uhr werden wir zum Event gefahren. Es nieselt. Inzwischen ist das Festivalareal mit ca. 40000 Besuchern gefüllt. Auf „unserer“ SOLAR-Stage spielen gerade die japanischen Pop-Superstars „Boom Boom Satellites“ und lösen frenetischen Jubel aus.

Das von mir bestellte elektrische Schlagzeug ist bereits fertig zusammengesetzt und steht auf einem rollbaren Podest. Ich brauche nur noch die Feinjustierung vorzunehmen, mein Soundmodul und meinen Kopfhörerverstärker anzuschließen. Selbstredend hat man mir einen 110 zu 220 Volt - Konverter für den Kopfhörerverstärker hingestellt. Die japanische Stage Crew ist mehr als hilfreich, irrwitzig schnell und professionell. Alles geschieht mit ausgesucht respektvoller Freundlichkeit. Zur gleichen Zeit bauen Manuel und Steve ihr Set auf. Markus hilft Manuel, Florian filmt uns unauffällig. Der ganze Auf- und Umbau geschieht auf einem abgeschirmten Seitenteil der Bühne. Für den Umbau von Boom Boom Satellites zu Ashra sind 45 Minuten vorgesehen. Kein Soundcheck, nur ein kurzer Linecheck. Die für das Mischpult und das Monitoring verantwortlichen Techniker stellen sich jedem von uns vor. Wir besprechen individuell die Vorgehensweise und verabreden eine Zeichensprache für die Zeit unseres Auftrittes.

Harald und Steve backstage

Als ich mich noch einmal in unser Backstage-Zelt begebe, begegne ich nach acht Jahren Gen Fujita wieder, den großen japanischen Mentor Ashras, vor allem Manuels. Gen Fujita-san hat vor etwa 15 Jahren in seinem Tokyo Tower, einem rot lackierten, stählernen, ehemaligen Radiosendeturm, dreißig Meter höher (!) als der Pariser Eiffelturm, eine Art museale Gedenkstätte, unter anderem für Krautrock, eingerichtet. Gen Fujita hat seine Tochter und einige Leute seines Staffs mitgebracht. Sichtlich stolz, spricht er mich auf Deutsch an. Seit neuestem lernt er zwei Mal in der Woche deutsch. Ich bin beeindruckt. Er hat uns für kommenden Montag, wenn wir wieder in Tokio sind, zu einem Essen eingeladen.

Manuel ist seit einigen Jahren ein Star in Japan. Vor zwei Jahren war er als Solist schon einmal auf dem Metamorphose Festival. Davor im gleichen Jahr auf dem Anoyo Prism Festival am Mount Fuji. Diesen Erfolg hat er einer Solo-LP mit dem Titel E2-E4 zu verdanken. 1981 in einer spontanen Session entstanden, aber erst drei Jahre später veröffentlicht. Zunächst von der Öffentlichkeit ignoriert, wurde sie dann von der internationalen Techno-DJ-Szene entdeckt und bis heute in den Clubs der ganzen Welt rauf und runtergespielt und vielfach remixed. Auch von Joe Claussell, ein in Deutschland weniger bekannter DJ, zählt zur absoluten Spitze international auflegender DJs. Joe ist vor allem auch als Produzent von Miles Davis, als dieser noch lebte und von keinem minderen als Herbie Hancock bekannt. Zurzeit ist er mit Hancock im Studio.

Joe Claussell & Steve Baltes

Joe Claussell ist neben Gen Fujita wohl der größte Fan Manuels, den er immer Manuel Göttsching, the Genius nennt, wenn er ihn vorstellt. Der sympathische Joe hält sich vor unserem Auftritt die ganze Zeit in unserem Backstage-Zelt auf und steht dann auch die ganze Zeit während unserer Performance aufmerksam lauschend im Schatten der Bühneseite.

Japaner sind, noch weit vor uns Deutschen, ein Ausbund an Pünktlichkeit. Auf die Minute genau beginnen hier die Dinge. Auf die Minute genau enden sie. In deutlicher Sichtweise am Bühnenrand positioniert, eine Leuchtuhr mit großen Ziffern. Mahnung an uns, diese japanische Tugend nicht überzustrapazieren. Manuel muss fünf Minuten vor unserer Performance noch einmal auf Klo und sich danach noch eine Zigarette anstecken. Sein Gleichmut in solchen Situationen ist mir aus alten Zeiten gut bekannt. Diesem Gleichmut kann dann aber ein zu hart gekochtes Ei beim Hotelfrühstück ein jähes Ende bereiten.

Harald in Aktion

Harald in Aktion

Harald in Aktion

Steve und ich fühlen uns wie Rennpferde unmittelbar vorm Start. Es ist 1:30 Uhr nach Mitternacht, als wir loslegen. Der leichte Nieselregen hat niemanden daran gehindert, sich vor der Bühne zu versammeln. Menschenmassen bis zum Horizont. Erst während des dritten Titels verfliegt meine Anspannung. Fast alles klappt wie am Schnürchen. Durch die Erschütterungen, die meine Bewegungen auf mein Schlagzeugpodest ausüben, schiebt sich während des vierten Titels der Notenständer unbemerkt über mein Soundmodul und löst den Schalter für automatische Begleitung aus. Der Drum-Rhythmus, der unvermittelt losbrät, hat nicht das Geringste mit Ashra oder dem Timing des gerade gespielten Titels zu tun. Es dauert zwei Sekunden bis ich realisiere, dass ich die Quelle des Übels bin. Weitere zwei bis ich dem Spuk ein Ende bereite.

Ashra beim Metamorphose 08

Wir haben einige Stücke zu lang ausgedehnt und müssen einen Titel weglassen, um in dem unbeugsamen japanischen Zeitraster zu bleiben. Ich erinnere mich an ein Konzert Review des englischen New Musical Express über unseren Ashra Gig im Londoner Regents Park im Sommer 1977, in dem einige unserer Stücke als „Never-Ending-German-Railroad-Rock“ bezeichnet wurden. Wir nahmen dieses Statement mit britischem Humor.

Ashra

Unsere Performance kommt mir vor, als hätte sie nur 10 Minuten gedauert. Mein Zeitgefühl steht in keiner Relation zum im Vorfeld betriebenen Aufwand. Verbeugen, Zugabe, Verbeugen, Schluss...... Es ist genau 3:00 Uhr als wir die Bühne verlassen. Als ich seitlich abtrete, nimmt mich eines der farbigen Bandmitglieder von Galaxy 2 Galaxy, die nach uns dran sind, spontan in den Arm und sagt mir wie großartig er und seine Band unsere Musik finden...

Ich habe alles gegeben und fühle mich erst einmal leer wie eine Bierdose. Es dauert eine ganze Weile, bis ich wieder auf dem Teppich bin und zu meinem Humor finde. Manuel findet es gewöhnungsbedürftig meinen Drum Sound nicht aus meiner Richtung zu hören, sondern ausschließlich aus Richtung der Monitore. Ich bin seit 1966 daran gewöhnt, den Sound von Gitarristen und Keyboardern nicht aus der Richtung kommend zu hören, in der sie sich gerade aufhalten, entgegne ich ihm.

Stage-Monitoring und Pa-Mix sind mit unserem Live-Konzept auch in stressigen Festivalsituationen relativ easy. Insgesamt nur drei Stereosummen zu kontrollieren. Die Roland Drum Sounds sind perfekt auf den Titel abgestimmte, mit bester Mikrophonie aufgenommene Studiosounds. Keine Rückkopplungen mehr. Für mich ist mit diesen E-Drums neuester Generation ein alter Traum in Erfüllung gegangen. Endlich auch ein geiler Dynamikumfang. Eine Trigger-Reaktionszeit identisch mit dem eines realen Drum-Kits. Jedenfalls fühlt es sich so an. Ich besaß vor fast 20 Jahren eines der ersten D-Drums von North. Das habe ich aber schnell wieder in den Keller gestellt. Nur 5 Sounds. Jeder Sound in einer großen Cartridge, welche man in einen Slot stecken musste. Das Soundmodul, ein roter Stahlblechkoloss.

Harald mit Bart made by Takao SakaiWir bekommen backstage Besuch von Takao Sakai. Ein japanischer Künstler, dessen Konzept es ist, Bekleidungsstücke, vorzugsweise Abdrücke von Früchten, aus Silikon herzustellen und diese dann Freunden, Bekannten und sich selbst anzulegen, um sie dann zu fotografieren. Uns hängt er weinrote Bärte in Beerenform um. Jetzt sind wir drei mit diesen Fruchtbärten als Kunstobjekte verewigt.

Es ist inzwischen hell geworden. Meine Kamera fällt aus der Fototasche und knallt auf den Asphalt hinter der Bühne. Scheiße, Monitor kaputt. Sonst geht alles noch.

Nach ihrem Gig joken die farbigen Musiker von Galaxy 2 Galaxy backstage was das Zeug hält. Gegen 8:00 Uhr lassen Steve und ich uns ins Hotel bringen. Wieder eine Nacht ohne Schlaf, aber happy. Erst mal frühstücken. Wieder in diesem großen Esssaal und den mit Yukata’s bekleideten Japanern. Es heißt, wir brauchen erst gegen vier Uhr nachmittags auszuchecken. Ich dusche mich und lege mich ab. Nach zwei Stunden weckt mich das Telefon. Mayuri, die Veranstalterin des Metamorphose Festivals, teilt mir mit, dass sie das Hotel doch nicht länger buchen kann, weil es ausgebucht ist. Das heißt sofort aufstehen, packen abreisen. So müde war ich seit den ersten Lebenswochen meiner Zwillinge nicht mehr. Was soll’s! Zwanzig Minuten später stehe ich abreisebereit im Foyer. Erstaunlicherweise sind alle, trotz extremster Übermüdung pünktlich.

Es pladdert tropisch aus den Wolken. Zurück über die Bergstrassen Izu Hanto’s. Wir machen einen Stopp in einer typisch japanischen Küstenstraßen-Raststätte. Die Hälfte des Restaurants hat keine Stühle.
Wir nehmen auf Sitzkissen an einem langen, sehr niedrigen Tisch Platz, der auf einer podestartigen Fläche steht. Im Angebot vorwiegend Meeresfrüchte in allen Varianten.

Wieder im Auto wird Ilona schlecht von der Kurverei. Als wir die Autobahn erreichen, schlafen alle. Ich wache auf, als wir an einer Tankstelle Halt machen. Die Zapfsäulen und Füllstutzen hängen unter der Decke! Clever diese Japaner!

Nachdem wir wieder im Keio Plaza eingecheckt sind, verabreden wir uns wieder zum Essen. Manuel hat sich lang gemacht. Ilona sitzt am Computer und checkt E-Mails. Um 11:00 Uhr liege ich im Bett. Das ist erst die zweite Nacht, in der ich hier zu normalem Schlaf finde. Es bleiben noch zwei Tage in Tokio. Steve und ich wollen morgen Vormittag in den Stadtteil Akihabara fahren und uns diese berühmten Super Electronic Stores anschauen.

Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg. Es regnet, stört uns aber nicht. Wir haben unsere durchsichtigen Regenschirmchen dabei. Steve plädiert für ein Taxi. Ich überrede Steve die U-Bahn zu nehmen. Steve würde sich, zur Vermeidung von befürchteten Komplikationen bei der Benutzung dieses volkstümlichen Transportmittels, lieber per Taxi durch den Verkehr quälen. Man hat ja viel über das Tokioter U-Bahnsystem hier gehört. Etwa, dass alle Beschriftungen nur auf Japanisch seien. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass eine so moderne Weltstadt es nicht schafft, wichtige Hinweise auch in englischer Sprache anzubringen. Außerdem reizt mich die Lösung dieses Abenteuers.

Schließlich lässt sich Steve auf meinen Vorschlag ein. Unsere Zeit ist begrenzt. Um 16:00 sind wir im Foyer unseres Hotels für die Abfahrt zu Mr. Fujita’s Einladung verabredet. Der legt großen Wert auf Pünktlichkeit, legt mir Ilona noch einmal ans Herz. Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir seine letzte Einladung vor elf Jahren nicht pünktlich erreichten. Wie alle Japaner ist auch Mr. Fujita ein höflicher Mensch, der seine verletzten Gefühle nicht öffentlich macht. Diesmal wollen wir ihn auf keinen Fall enttäuschen.

GlückskatzeShinjuku Station. Der größte Eisenbahn- und U-Bahnknotenpunkt Tokios. Man läuft eine dreiviertel Stunde von einem zum anderen Ende. Wir stürzen uns in die von Menschen wimmelnde Station und blicken erst einmal überhaupt nicht durch. Unzählige Schalter, viele Schilder mit japanischen Schriftzeichen. Werden unsere Vorurteile bestätigt? Es drängt sich die Frage auf, welche Schalter sind für Eisenbahnverkehr, welche für U-Bahnverkehr zuständig? Dazu kommt, dass die Eisenbahn von diversen Privatgesellschaften geführt wird, die alle eigene Schalter betreiben. Steve will aufgeben und lässt seine Taxiidee wieder aufleben.
Ich lasse nicht locker. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich unter den rätselhaften Hiragana-, Katakana- und Kanji-Schriftzeichen auch Hinweise in Englisch. Ich finde mit Hilfe meines Lonely Planet Reiseführers und genauem Hinsehen heraus, dass wir die Oedo Line nehmen müssen. Kaum haben wir die Kassiermaschinen mit ihren Computerscreens als die für die U-Bahn zuständigen identifiziert, werden wir freundlich von einem uniformierten Japaner angesprochen, der offensichtlich für hilflose Ausländer zuständig ist: „Need help?“. Was für ein Service, denke ich hocherfreut! Im Umkehrschluss die gleiche Situation in Berlins U-Bahnkatakomben stelle ich mir ganz anders vor: „Könn’se nich’ lesen!? Ick hab jezz keene Zeit!“

Der Mann steckt für uns das Geld in die Kassiermaschine und verabschiedet sich freundlich. Wir sind stolz. Der erste Schritt ist getan. Jetzt nur noch den Oedo Line Zeichen folgen. Wir laufen in einem diszipliniert linksseitig-orientierten Menschenstrom gute 10 Minuten, bevor wir die automatischen Oedo Line Sperrschleusen erreichen. Wir stecken unsere Tickets in den dafür vorgesehenen Schlitz, der sie blitzschnell verschlingt, um sie mit affenartigem Speed durch die Maschine zu befördern, eine Zehntelsekunde später am hinteren Ende wieder herausschießen lässt und gleichzeitig den Entriegelungsmechanismus der Sperre auslöst. So funktioniert es in der Regel.

Wir schmeißen unsere Tickets rein. Im selben Moment schauen sie auch schon wieder aus dem gleichen Schlitz hervor... nichts passiert. Die Sperre bleibt verschlossen. Der unaufhörliche Menschenstrom hinter uns mahnt zur Eile. Zwei Millionen Tokioter werden so täglich transportiert.

Steve fühlt sich wieder in seinen Zweifeln bestätigt und regt wieder die Taxiidee an. Ich will nicht aufgeben! An jeder Sperre gibt es einen kleinen Schalter, hinter dem ein uniformierter Angestellter sitzt. Den sprechen wir an. Er spricht ein paar Brocken Englisch. Ich verstehe.
„Wrong company!“ „Ahh...!“, also auch die U-Bahn wird von unterschiedlichen Privatfirmen mit diversen eigenen Schaltern und Kassiermaschinen geführt.

Wir die zehnminütige Strecke wieder zurück. Ich finde tatsächlich den uniformierten freundlichen Ausländerbeauftragten von vorhin wieder und erkläre ihm unsere Not. „Ohhh sorry!“ Er nimmt unsere Tickets und entfernt sich rennend. Nach zwei Minuten haben wir unser Geld wieder und gehen die Zehn-Minuten Strecke zur Oedo Line wieder zurück.

Diesmal klappt alles wie am Schnürchen. Auf den englischsprachigen Tafeln über den Kassiermaschinen die Ziel-Stationen identifiziert. Da kann man Preis und Nummer der Zielstation ablesen. Mit dem Finger auf dem Computerscreen der Kassiermaschine die richtige Summe angewählt, Geld in die Maschine, Ticket entnehmen. Ticket rein in den Schlitz des Sperrenautomaten. Flitsch...!!! Das Ticket flitzt in einer Zehntelsekunde durch und gibt unseren Weg frei. Ich schaue Steve triumphierend an. Nach einer guten halben Stunde Fahrt steigen wir an der Station Ueno-okachimachi aus. Umsteigen und rüber zur Hibya Line. Wieder fast zehn Minuten Wegstrecke bis zum Kreuzpunkt Naka-Okachmachi. Sind wir auf der richtigen Seite? Ich frage eine japanische Dame: “Akihabara?“. Sie nickt freundlich, was ich als Zeichen deute, richtig zu liegen. Wir in die nächste U-Bahn. An der Station Ueno erkenne ich meine Missinterpretation des freundlichen Nickens der älteren Dame von eben.
Wir sind eine Station Richtung Norden gefahren, müssen aber in den Süden. Also nichts wie raus, auf die andere Seite in den richtigen Zug. Yeah...!

Akihabara, das unvergleichliche Paradies aller Electronic Freaks weltweit. Nie zuvor habe ich auf einer einzigen Etage derartig viele Handys gesehen. Und die Etage ist riesig. Das Gebäude siebenstöckig. Im zweiten Stock Computer. Im dritten Computerzubehör und Hi-Fi. Im vierten Haushaltsmaschinen. Hier relaxen wir, indem wir uns eine Weile von Massagesesseln durchkneten lassen. Im fünften Kameras, Kamerazubehör und Uhren. Im sechsten Schreib-, Spielwaren und Fahrräder. Alles in einer Vielfalt, die einem den Atem stocken lässt. In der siebten Etage jede Menge Restaurants. Ich esse Spaghetti Aglio Olio con Peperoncini. Das hier übliche Sesamöl passt mit seinem speziellen Geschmack nicht so ganz zum gewohnten Original. Hätte doch lieber besser zum japanischen Angebot greifen sollen. Im Nu ist die Zeit verstrichen. Auf dem Rückweg fühlen wir uns wie Tokio U-Bahn-Veteranen.

Harald Grosskopf, Steve Baltes

Um Punkt 16:00 Uhr lässt uns Mr. Fujita mit einem Bus abholen. Mit von der Partie Joe Clausell und sein japanischer Promoter Ryo Watanabe. Vor 11 Jahren stand ich das erste Mal vor diesem imposanten rot lackierten Stahlbau, dem Tokyo Tower von Gen Fujita-san. 33 m höher als der Eiffelturm, lese ich im Lonely Planet. Müsst ihr mal googeln. Am Eingang des Museums, rechts neben der Kasse, eine 3 m hohe Skulptur mit Marilyn Monroe, Abraham Lincoln, Chiune Sugihara und Manuel Göttsching. Über dem Eingang zur Musikabteilung des Wachmuseums: INVENTIONS FOR ELECTRIC GUITAR, Titel eines frühen Göttsching-Werks. Der Boden im gleichen Muster wie das Cover seiner E2-E4 Scheibe. Neben den üblichen Verdächtigen, wie Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl, Marilyn Monroe, die Queen und Frank Zappa, gab es damals schon ein lebensgroßes, wächsernes Abbild von Manuel Göttsching in eigener Glasvitrine zu bewundern. Später kam auch Lutz Ulbrich, alias Lüül dazu, unser vierter Ashra-Mann an Gitarre und Keyboards. Leider diesmal durch seine Verpflichtungen bei den „17 Hippies“ verhindert. Auch Michael Hönig, der mit Lüül in den Siebzigern die Berliner Kultband Agitation Free gründete und streckenweise Mitglied bei Tangerine Dream war, ist inzwischen als Wachsfigur präsent.

Manuels Vitrine ist mittlerweile mit einer großen Zahl von Sammelstücken und Postern aus der Frühzeit der Berliner Schule geschmückt. Überall hängen Original-Poster des Krautrock. Von Amon Düül bis Guru Guru. Ich bin beeindruckt. Dabei zählte Ashra (Ash Ra Tempel) früher nie zum Krautrock. So nannte die englische Musikpresse in abfälliger Weise die unzulänglichen Versuche deutscher Rockbands so klingen zu wollen wie ihre angloamerikanischen Vorbilder. Ash Ra Tempel, ab 1977 dann Ashra, hatten sich von Anfang an genau dem Gegenteil verschrieben. Eigene Wege gehen und eben nicht so zu klingen wie deutscher Siebziger Jahre Mainstream-Rock. Im Laufe der Zeit ist der Begriff „Krautrock“ dann zum Kult stilisiert worden und seither wird nahezu alles, was damals Musik machte, in diesen Topf geworfen.

2008 GET PRESS Tokyo Tower Werbung

„Grosskopf-san, someone offered me four millions Yen (250.000 Euro ) for this poster!”, ruft mir Gen Fujita zu, auf ein Ashra-Poster aus den Siebzigern zeigend. Hätte ich damals derartiges gesammelt, könnte ich jetzt easy mein Haus abbezahlen, denke ich...

Der neueste Clou Gen Fujita’s ist eine Vitrine mit einer Dekoration aus einer Szene des 1975 gedrehten Undergroundfilms „Le Berceau de Cristal“ von Philippe Garell, einem französischen Filmemacher. Manuel und Lutz hatten dazu die Musik gemacht. Jetzt besitzt Mr. Fujita auch, bis auf einen Kopf den er nachfertigen musste, die originalen Wachsfiguren der Beatles von 1964 aus dem Madam Tussauds Wachsmuseum in London.

Leuchtstab mit Ashra/Manuel Göttsching Schriftzug - für FansNachdem wir mit dem Museumsdurchgang fertig sind, werden wir in einen Raum geführt, in dessen Mitte ein Tisch steht, auf dem Blumenarrangements und allerlei leckere Sachen drapiert sind. Dann bekommen wir Tüten mit Geschenken überreicht. Gen Fujita hat vom jungen Manuel kleine Büsten in weiß und grünmetallic herstellen lassen. Manuel van Beethoven. Außerdem ein transparentes Kleeblatt aus Kunststoff mit weißem Handgriff, an dessen Seite ein Schalter ist. Wenn der betätigt wird, blinkt das Kleeblatt blau. Auf dem Kleeblatt steht eingraviert „Ash Ra Tempel - Manuel Göttsching“. Derartiges Utensil nutzt der „Tokio Hotel“ - Fan, wenn er seinen Heroen auf der Bühne zuwinkt, dann wahrscheinlich aber welche ohne diese „Ash Ra Tempel – Manuel Göttsching“ - Aufschrift.

Nach einer halben Stunde und ein paar Tassen Kaffee ist Aufbruch. Wir verabschieden uns von Joe und Ryo Watanabe und schießen noch schnell ein Beweisfoto mit Joe, Steve und mir. Manuel und Ilona sitzen schon in der S-Klasse und sind auf dem Weg zum Restaurant, in das uns Gen Fujita geladen hat. Wir treffen etwas später ein und werden auf die für uns vorgesehenen Plätze gewiesen. Ein in Japan übliches Ritual. Es gibt nichts was Japaner mehr verunsichert, als ihre gesellschaftliche Position einschätzen zu können. Position und Platzzuweisung sind aus einem Guss. Da wir nicht im Nebenraum platziert werden können, fühlen wir uns geehrt. Da haben wir es mit unserer allgemeinen Gleichmacherei in Europa wesentlich leichter. Frei nach Mao Tse-Tung: „Wer zuerst kommt, malt zuerst...“

Gen Fujita-san hat schon bei unserem letzten Besuch mit für ihn typisch deutschen Accessoires aufgewartet. Diesmal überrascht er uns mit Fritten, einer Brat- und Wienerwurst, in denen ein deutsches Papierfähnchen und ein Papierschirmchen stecken. Selbstredend mit Ketchup und Majo. Da es Fritten in Japan nicht gibt, sind diese hier handgemacht und daher von unvergleichlicher Qualität. Dann wird uns eine grüne Flasche mit allerbesten Sake serviert. Der wird nicht heiß serviert und hat eine milchige Konsistenz. Alles was mir vorher in meinem Leben als Sake serviert wurde, gehörte in den Ausguss. Das edle Reisgetränk hat 65 % Vol. Alkohol. Heftig, ist meine erste Reaktion. Er schmeckt überraschend mild. Steve-san und ich leeren die Flasche an diesem Abend allein.

Was uns dann an Köstlichkeit aufgetischt wird, ist überirdisch. Wer bislang glaubte, das japanische Kobe-Rind liefere das beste Fleisch der Welt, hat nie Miyazaki Beef gekostet. Das Fleisch ist von gleichbleibender, zarter Konsistenz, auf Bambusspieße gesteckt und schmeckt wie nicht von dieser Welt. Wir essen so lange, bis wir freundlich ablehnen. Zu Hause in Deutschland werde ich nie wieder ein Stück Fleisch anrühren können, befürchte ich. Mein Verdacht: Mr. Fujita ist von einer geheimen Vegetariersekte beauftragt, auf diese ungewöhnlich raffinierte Art die Zahl der Vegetarier weltweit zu steigern… Ich werde meinem alten Wallenstein-Mitstreiter Jürgen Dollase, inzwischen vom Keyboarder zu einem der Gourmetkritiker Deutschlands gewandelt, von diesem Genusserlebnis berichten.

Mein japanischer Tischnachbar Nonaka Yoshimoto ist ein anregender Gesprächspartner. Gleichzeitig gilt seine Aufmerksamkeit auch der kaum wahrzunehmenden Zeichensprache Mr. Fujita’s. Es kann passieren, dass alle anwesenden Mitarbeiter jäh das Gespräch abbrechen, um blitzschnell Getränke zu beschaffen oder andere Dinge im Handumdrehen erledigen. Diese Art der Hingabe ist eine Tugend, die wir Deutschen im Laufe des letzten Jahrhunderts ad acta gelegt haben. Mein europäisches Empfinden will rebellieren und den sich so verhaltenden Menschen wieder auf die Füße helfen. Ich bin jedenfalls unsicher, wie ich dieses Verhalten bewerten soll. Vielleicht sollte ich es einfach hinnehmen, denn Japaner scheinen sich darüber keine Gedanken zu machen.

Wieder ist es spät geworden. Ich habe für den morgigen letzten Tag geplant das Edo Museum zu besuchen. Edo wurde der Sitz des Tokugawa-Shōgunats, das Japan von 1603 bis 1868 beherrschte, genannt. Diese Periode der japanischen Geschichte wurde als Edo-Zeit bezeichnet.

Die U-Bahnfahrt gelingt ohne Zwischenfälle. Das Museum beherbergt eine Fülle von Holzmodellen in kleinem und großem Maßstab. Eine Abteilung zeigt japanische Nachkriegsautos und in einer Glasvitrine liegt die Originalurkunde der japanischen Kapitulation vom August 1945. Im Museum schlummere ich ein Stündchen, was hier niemanden stört. Japaner nehmen gerne jede Gelegenheit zum kleinen Napping wahr. Danach fahre ich noch einmal zum Elektro-Supermarkt nach Akihabara und kaufe Geschenke für meine Frau und meine Zwillinge. Nach dem Abendessen mit Steve, Markus und Florian feiern wir abschließend diese unvergessliche, erfolgreiche Woche. Zum Abschied trinken wir ein Gläschen vom Veuve Cliquot Ponsardin Champagner, einem traditionellen Willkommensgeschenk Gen Fujita-san‘s, welches jeder von uns bei dem Betreten seines Hotelzimmers vorfand.

Es ist 2:00 Uhr, als ich im Bett liege. Um 5:30 Uhr wieder raus aus dem Bett, packen, frühstücken und in den Shuttlebus zum Narita Airport. So müde habe ich Steve noch nie erlebt. Der Flug verläuft reibungslos. Um 19:00 Uhr deutscher Zeit landen wir in Düsseldorf. Meine Tochter Sky erkennt mich nicht gleich. Die Mütze auf meinem Kopf sieht sie zum ersten Mal. Wahrscheinlich sehe ich ziemlich mitgenommen aus. Nach ein paar Tagen treffen erste E-Mail Reaktionen von Freunden und aus Japan ein. So schrieb mir DJ Mayuri Akama, die Veranstalterin des Festivals: “Dear Harald, thank you so much for your performance at Metamorphose, so many people listed Ashra as the best act of this year's Metamorphose, which I agree. That was fantastic!”

Kama, ein japanischer Fan schrieb einem Freund: ”Two weeks before, we saw Ashra in SHUZENJI. They were definitely the best act in the event. We really enjoyed their amazing session!!”

MTV Japan will unseren Titel „Flying Turtles” senden…

Der private japanische TV Sender Shower TV hat mit 6 Kameras unsere ganze Performance aufgezeichnet und sendet im Rahmen einer Festivaldokumentation acht Minuten daraus......

The Asahi Shimbun und Yumiori Shimbun, die zwei großen japanischen Tageszeitungen loben unseren Gig…

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